28

 

Chase stieg über eine männliche Leiche, die im ersten Stock vor einer offenen Wohnungstür lag. Im Wohnzimmer lief noch der Fernseher. Der alte Mann war übel zugerichtet von einem Rogue, der sich wohl noch im Gebäude aufhielt. Geräuschlos schlich Chase die Stufen zu Sullivans Wohnung hinauf. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und behielt wachsam die Umgebung im Auge. Er hielt die entsicherte Beretta mit nach oben gerichtetem Lauf beidhändig vor der rechten Schulter, sodass er im Bruchteil einer Sekunde die Waffe in Position bringen und die Titanium-Kugeln abfeuern konnte. Der Rogue, der sich sorglos oben in der Wohnung aufhielt, war schon so gut wie tot.

Am Ende der Treppe angekommen, blieb Chase im Flur vor der offen stehenden Wohnungstür stehen und wartete. Durch den Spalt neben dem Türpfosten sah er, dass die Wohnung geplündert worden war. Die Rogues hatten nach etwas gesucht - aber mit Sicherheit nicht nach Sullivan, es sei denn, sie hatten erwartet, ihn in einer der vielen umgedrehten Schubladen zu finden. Er sah drinnen eine plötzliche Bewegung und duckte sich blitzartig. Der Rogue kam mit einem Schlachtermesser aus der Küche und begann die Sesselpolster aufzuschneiden.

Mit der Stiefelspitze schob Chase die Tür weit genug auf, um hineinschlüpfen zu können. Vorsichtig betrat er die Wohnung und hielt die Neunmillimeter von hinten auf den Rogue gerichtet. Wegen seiner besessenen Suche nahm er keine Notiz von der nahenden Bedrohung, bis Chase keine zwei Schritte hinter ihm stand und den Lauf der Waffe direkt auf seinen Kopf richtete.

Chase hätte in diesem Augenblick schießen können und es wohl besser auch getan. Seine ganze Ausbildung und seine Logik befahlen ihm, den Abzug zu betätigen und eins der Titaniumgeschosse in den Hinterkopf des Rogue zu feuern, aber ein Instinkt ließ ihn zögern.

Im Bruchteil einer Sekunde unterzog Chase den Rogue einer visuellen Überprüfung. Er nahm die große, athletische Statur wahr, die Zivilkleidung … den Schatten jugendlicher Unschuld, der sich unter dem schmuddeligen Sweatshirt und den Jeans verbarg … das fettige, ungekämmte Haar. Er hatte einen Junkie vor sich, daran bestand kein Zweifel. Der Rogue roch nach saurem Blut und Schweiß -  Merkmale von Vampiren, die zu Blutjunkies geworden waren.

Aber dieser Süchtige war kein Fremder.

„Allmächtiger“, flüsterte Chase. „Camden?“

Beim Klang von Chases Stimme erstarrte der Rogue augenblicklich. Seine Schultern spannten sich, der struppige Kopf drehte sich langsam zur Seite und verharrte in einem spitzen Winkel. Durch seine entblößten Fangzähne gab er einen grunzenden Laut von sich und schnüffelte in der Luft. Sein Gesicht war zum Teil verdeckt, aber Chase konnte erkennen, dass die Augen seines Neffen bernsteingelb in seinem blassen Gesicht glühten.

„Cam, ich bin’s. Dein Onkel. Leg das Messer weg, Junge.“

Es gab keine Anzeichen dafür, dass Camden ihn verstanden hatte -  und er ließ auch das Messer nicht los. Er drehte sich langsam um wie ein Tier, das sich plötzlich bewusst wird, dass es in die Enge getrieben wurde.

„Es ist vorbei“, sagte Chase. „Du bist jetzt in Sicherheit. Ich bin hier, um dir zu helfen.“

Noch während er es sagte, fragte sich Chase, ob er das wirklich ernst meinte. Er nahm die Waffe ein wenig herunter, ließ sie aber entsichert. Jeder Muskel in seinem Arm war angespannt, sein Finger lag am Abzug. Eine böse Vorahnung -  so kalt wie der Durchzug in der Wohnung -  beschlich ihn. Auch Chase fühlte sich in die Enge getrieben. Er war sich seiner selbst nicht sicher und erst recht nicht seines Neffen.

„Camden, deine Mutter macht sich große Sorgen um dich.

Sie möchte, dass du nach Hause kommst. Wirst du das für sie tun, Junge?“

Ein langer Moment verstrich in argwöhnischem Schweigen.

Chase beobachtete den einzigen Nachkommen seines Bruders, der sich langsam umdrehte und seinen Onkel ansah. Chase war auf das, was er sah, nicht vorbereitet. Er versuchte seine Reaktion unter Kontrolle zu halten. Doch sein Magen revoltierte, als er die blutbefleckte, zerlumpte Erscheinung des Jungen sah, der noch vor wenigen Wochen mit seinen Freunden gescherzt und gelacht hatte -  ein glückliches Kind, dessen Zukunft so vielversprechend war.

In dem verwilderten Mann, der sich nun drohend vor ihm aufbaute, war von der einstigen Hoffnung nichts mehr zu sehen.

Seine Kleidung war beschmiert von dem Blutbad in der ersten Etage, und er hielt das Messer noch immer fest umklammert.

Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen verengt, seine Pupillen schwarze Splitter in einem leeren, gelben Blick.

„Cam, bitte … zeig mir, dass du noch irgendwo da drinnen bist.“

Chases Handflächen fingen an zu schwitzen. Sein rechter Arm bewegte sich wie von selbst, und er hob langsam die Waffe.

Der Rogue grunzte und duckte sich leicht. Sein wilder Blick hetzte berechnend und abwägend hin und her. Chase wusste nicht, ob die Gedanken, die durch Camdens Kopf schossen, ihm zum Kampf oder zur Flucht rieten. Er hob die Neunmillimeter ein wenig höher, und sein Finger zitterte am Abzug.

„O Scheiße … das ist nicht gut. Das ist verdammt noch mal gar nicht gut.“

Mit einem trostlosen Seufzen richtete er die Waffe nach oben und gab einen Schuss in die Decke ab. Der Knall der Explosion hallte durch den Raum. Camden ergriff aufgeschreckt die Flucht, sprang quer durchs Zimmer und rannte an Chase vorbei in Richtung Balkonschiebetür. Schneller als ein Augenaufschlag sprang er über das Geländer und war nicht mehr zu sehen.

Chase sackte zusammen und ging in die Knie. Ein beklemmendes Gefühl aus Erleichterung und Reue überkam ihn. Er hatte seinen Neffen gefunden, aber einen Rogue entkommen lassen. Als er schließlich den Kopf hob und zur Türöffnung blickte, sah er dort Tegan stehen. Der Krieger musterte ihn mit einem scharfen, wissenden Blick. Er hatte nicht gesehen, wie Chase den Rogue entkommen ließ, aber er wusste es auch so.

Dieser gefühllose grüne Blick schien alles zu wissen.

„Ich konnte es nicht“, murmelte Chase, schüttelte den Kopf und starrte auf die abgefeuerte Waffe. „Er gehört zu meiner Sippe … ich konnte es einfach nicht.“

Tegan sagte einen Moment lang nichts und sah ihn abschätzend an. „Wir müssen los“, bemerkte er dann ausdruckslos. „Die Frau ist in schlechter Verfassung. Dante wartet mit ihr im Wagen.“

Chase nickte und folgte dem Krieger aus dem Gebäude.

 

Dantes Puls raste noch immer vor Furcht und Wut. Er bettete Tess auf den Rücksitz des Rovers, deckte sie mit seiner Jacke zu, um sie warm zu halten, und hielt sie in seinen Armen. Er hatte sein T-Shirt ausgezogen und in Streifen gerissen, um die Wunde an ihrem Handgelenk und die erheblich ernstere Verletzung an ihrem Hals behelfsmäßig zu verbinden. Sie lag sehr still an seiner Brust und schien fast nichts zu wiegen. Er sah ihr ins Gesicht und war dankbar, dass der Angriff der Rogues nicht über die bereits zugefügten Qualen hinausging. Sie hatten sie weder vergewaltigt noch geschlagen und gefoltert, wie das für gewöhnlich ihrer kranken Art entsprach. Angesichts ihrer grausamen, animalischen Veranlagung war das ein seltener Glücksfall. Aber die Rogues hatten ihr Blut genommen -  eine gewaltige Menge Blut. Wenn Dante sie nicht rechtzeitig gefunden hätte, wäre sie aller Wahrscheinlichkeit nach restlos ausgeblutet worden. Ihm schauderte bei der Vorstellung. Wie er sie so daliegen sah - bewusstlos, kalt und mit blassem Gesicht - , wusste er nur einen sicheren Weg, wie ihr zu helfen war. Sie brauchte dringend eine Bluttransfusion, um ihren Verlust wieder auszugleichen. Keine medizinische Transfusion, wie sie ihre menschlichen Schwestern bekommen hätten, sondern Blut von jemandem aus dem Stamm.

Er hatte den ersten Schritt ihrer Blutsverbindung bereits in jener Nacht erzwungen, als er ihr Blut nahm, um sich zu retten.

Konnte er so gefühllos sein und diesen Bund jetzt endgültig besiegeln, ohne dass sie in der Lage war, das mit zu entscheiden?

Die Alternative hieß zuzusehen, wie sie langsam in seinen Armen starb. Das war nicht akzeptabel, selbst wenn es bedeutete, dass sie ihn hassen würde für ein Leben, das sie an ihn band wie mit unzerstörbaren Ketten. Sie verdiente so viel mehr, als er ihr geben konnte.

„Scheiße, Tess. Es tut mir leid. Aber es ist die einzige Möglichkeit.“

Er fügte sich mit der rasiermesserscharfen Spitze seiner langen Fangzähne einen vertikalen Schnitt zu und legte sein Handgelenk an ihren Mund. Blut trat aus und lief als kleines Rinnsal seinen nackten Arm runter. Sacht hob er Tess’ Kopf an, um ihr sein Blut zu trinken zu geben, und registrierte nur nebenher die eiligen Schritte, die auf den Wagen zukamen.

Die Vordertüren öffneten sich, und Tegan und Chase stiegen ein. Tegan blickte nach hinten und sah die verletzte rechte Hand von Tess, die unter Dantes Jacke herausgerutscht war -  die Hand, die das Mal mit der Träne und dem Halbmond trug.

Die Augen des Kriegers verengten sich zu Schlitzen, dann sah er Dante an. In seinem Blick lag eine Frage, aber auch Vorsicht.

„Sie ist eine Stammesgefährtin.“

„Ich weiß, was sie ist“, antwortete Dante seinem Waffenbruder. Er versuchte gar nicht erst, die tiefe Besorgnis in seiner Stimme zu verbergen.

„Fahr, Tegan. Bring uns so schnell du kannst zum Anwesen.“

Der Krieger legte den Gang ein und gab Gas. Dante legte sein Handgelenk auf Tess’ leblose Lippen und sah zu, wie sein Blut langsam in ihren Mund rann.

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